Joey Goebel („Vincent“) ist die Seele des besseren Amerika. „Irgendwann wird es gut“ ist ein Plädoyer für die vordergründigen Verlierer einer Gesellschaft, die dennoch das letzte Wort haben. Ein Roman in Geschichten, stärker, authentischer und verletzlicher denn je.

Buchkultur: Ihr letzter Roman „Ich gegen Osborne“ erschien vor sechs Jahren. Ihre deutschsprachigen Leser haben das Erscheinen Ihres neuen Buchs heftigst erwartet. Die politische Landschaft in den USA hat sich inzwischen sehr verändert. Abgesehen davon: Wie ist es Ihnen seither ergangen? Wie geht es Ihrem kleinen Sohn?

Goebel: Vielen Dank. Ich weiß Ihre ermutigenden Worte sehr zu schätzen. Die letzten sechs Jahre waren nicht die besten. Ich machte eine Scheidung durch, und meine Gesundheit war nicht großartig. Aber die gute Nachricht – und das ist am Ende alles, was zählt – ist, dass mein kleiner Bub, Joe, gesund und glücklich ist und gut gedeiht. Er ist mein Held.

Was motivierte Sie zu Ihrem ersten Erzählband?

Das ist tatsächlich ein Buch, das ich von dem Moment an schreiben wollte, als ich mich dazu entschied, Schriftsteller zu werden. Die Motivation dazu war also von Beginn an da. Die Idee dazu hatte ich auf dem College, in einem Kurs über amerikanische Literatur. Wir lasen Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“. Es ist eine Sammlung von Geschichten, jede über einen einsamen, exzentrischen Menschen in dieser traurigen kleinen Stadt. Und so kam mir der Gedanke, dass ich gerne eine moderne Version von „Winesburg, Ohio“ schreiben würde, die im heutigen Kentucky spielt. Diese Idee war die erste Idee, die ich überhaupt für ein Buch hatte. Aber dann kam ich auf die Idee für „Freaks“, dann „Vincent“, und am Ende habe ich siebzehn Jahre gebraucht, um die Zeit zu finden, das Buch zu schreiben, das ich ursprünglich schreiben wollte.

Ihre Erzählungen gehen in die Tiefe der Emotionen und Innenleben der Menschen und beschäftigen sich mit deren Wahrnehmung der Außenwelt, ihren Verletzungen, Verlusten, Träumen, Wünschen, Hoffnungen. Wo finden Sie Ihre Geschichten?

Wie jeder Autor, nehme ich an, bin ich ein Ideensammler, und seit ich im College war, beginnend um das Jahr 1998, habe ich dieses kleine rote Notizbuch behalten, und jedes Mal, wenn mir eine Idee kommt, schreibe ich sie auf. Wo ich meine Geschichten herbekomme? – Von meinem kleinen roten Notizbuch. Einige dieser Ideen, aus denen Geschichten wurden, sitzen zwanzig Jahre in dem Notizbuch. Zum Beispiel war eine der Ideen in dem Notizbuch: „Was, wenn zwei Männer dieselbe Frau stalken und dann ihre eigene seltsame Freundschaft entwickeln?“ Und daraus wurde die erste Geschichte in der Sammlung. Eine andere Idee besagte: „Was, wenn eine Lehrerin ihren Studenten Mitfahrgelegenheiten anbietet, um diese vom Fahren in betrunkenem Zustand abzuhalten? Und daraus wurde die Geschichte „Sei nicht dumm“.

Ich hatte das Gefühl, dass viel von Ihnen in den Geschichten, in den Charakteren, steckt. Ist das so und inwiefern?

Es ist so viel von mir in diesen Charakteren, dass es peinlich ist. Ich denke, die beste Art, wie ich darauf antworten könnte, ist, dass ich mit diesen Charakteren eine generelle Schwierigkeit im Umgang mit Leuten teile. Das Schlüsselwort, das ich im Sinn hatte, als ich diese Geschichten schrieb, ist: “disconnection”, das Gefühl des Abgeschnittenseins. Dieses Thema kam auch in „Ich gegen Osborne“ vor.

Sind Ihnen diese Gefühle, einsam oder ein Außenseiter zu sein, vertraut?

Ja. Aber die Einsamkeit und der Außenseiter-Status sind selbstgewählt. Mir gefällt das. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich unterrichte jetzt Englisch an der Highschool – eine vor kurzem erfolgte Veränderung in meinem Leben. Also musste ich den Winter-Tanz beaufsichtigen. Sie nennen es „den Schnee-Ball“. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es genoss, am Rand des Saals umherzugehen und alle diese jungen Menschen zu beobachten, das ganze lottrige Vergnügen der Menschheit, aber ohne dass ich selbst daran hätte teilnehmen müssen. Ich hielt mich am Rande auf, wo ich mich wohler fühle. Es gibt eine Szene in „Vincent“, in der er genau dasselbe beim Highschool-Tanz erlebt. Wie auch immer, gegen Ende der Nacht hin begann der DJ 80er-Jahre-Musik aufzulegen, und er spielte Whitney Houstons „I Wanna Dance With Somebody“. Und inmitten dieser 80-Jahre-Nostalgie und dieser glückseligen Teenager und der tiefen Einsamkeit, die ich fühlte, verspürte ich einen netten kleinen traurigen Lebensmoment, den ich nie vergessen werde. Und das Komischste daran ist, dass diese Traurigkeit absolut angenehm und köstlich war.

Welche der Erzählungen im neuen Buch ist Ihnen am nächsten?

Es muss „Eine Nacht im Ramada Inn“ sein. Sie handelt im Grunde von einem Vater, der seinen Sohn vermisst, und wegen der Scheidung bekam ich meinen Sohn nicht so oft zu sehen, wie ich wollte. Es ist ein einziger Schmerz, ein einziger Kummer, und so führt die Geschichte diesen Single-Vater in Umstände, wo er in einem Hotel eingeschneit wird. Und obwohl ein Teil von ihm ausflippen und frei sein will, Spaß haben und Frauen treffen will, möchte der andere Teil einfach nur ein Papa sein.

Ihr neuer Erzählband ist weniger satirisch als Ihre früheren Romane. Weshalb ist das so?

Donald Trump ist der Grund dafür, dass meine neuen Geschichten weniger satirisch sind. Ich war schon im Begriff, mich von der Satire wegzubewegen, weil mein persönlicher Geschmack jetzt mehr zum Realistischen tendiert. Aber in dem Moment, als dieser Mann Präsident wurde, sagte ich zu mir selbst, dass die Satire nun tot ist. Was ich damit meine, ist, dass die Realität nicht länger um des komischen Effekts willen vom Autor übertrieben werden muss. Weit hergeholte fiktive Ideen zu erfinden, um die Hässlichkeit der Gesellschaft zu enthüllen – nun, man sieht ganz offensichtlich, weshalb das nicht länger notwendig ist.

Wollten Sie jemals Ihre Heimat Kentucky verlassen so wie Luke im Buch?

Sicher. Das tue ich immer noch. Aber meine Umstände sind immer derart, dass ein Umzug nicht möglich ist.

Ist Kentucky, das Leben dort, für Ihr Schreiben wichtig?

Nein. Ich bin kein regionaler Autor. Diese Geschichten könnten sich in jeder Stadt im Mittleren Westen zutragen.

Ist Kentucky inspirierender oder faszinierender als New York?

Nein. Ich war in New York. Es war weitaus inspirierender und faszinierender. Ich möchte wirklich etwas Positives über Kentucky sagen, aber es ist zufällig einfach die Gegend, in der ich lebe. Es ist weder gut noch schlecht. Gut genug. Aber ich würde sagen, dass ich fasziniert davon bin, wie die Natur des Landes – sein Boden und seine Lebewesen – Kentucky zur reichsten Brutstätte der Sünde des Landes machen. Der Whiskey, der Tabak, die Rennpferde – und dabei ist es so religiös. Es ist, als hätte Gott uns das ideale Land für alle diese Dinge gegeben, die wir genießen können, aber dann sollen wir uns schlecht dafür fühlen, dass wir sie genießen. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke – vielleicht spielt das in mein Schreiben mit hinein: dieser innere Konflikt, ausflippen zu wollen, aber sich wegen der Wildheit Sorgen zu machen.

Die Mehrheit der Kentuckier wählte Trump. Kam das überraschend?

Nein. Kentucky wählte bei den Präsidentschaftswahlen schon seit langem republikanisch. Und er war „dieser eine Kerl vom Fernsehen“, daher war er unwiderstehlich.

Was, glauben Sie, war der Grund für Trumps Sieg?

Ich glaube, der Grund dafür ist, dass konservative Wähler eine gestörte Wahrnehmung davon haben, was „Werte“ sind. Darum ging es in „Heartland“. Die These dieses Romans war ein Zitat Howard Zinns – und ich paraphrasiere –, aber Zinn sagte, dass die amerikanische Geschichte zusammengefasst werden könnte als die Ausbeutung der Arbeitskraft der „Unterschicht“ durch Politiker der „höheren Klasse“. Und Trump, ein Manhattan-Billionär, der die Stimmen der Arbeiterklasse bekam –, das ist die Ausweitung dieses Gedankens in sein absurdestes Extrem.

Die Charaktere in Ihrem Buch sind auf die eine oder andere Weise einsam und isoliert. Sie wollen aus Moberly weg und suchen nach Liebe. Am Ende des Tages (und Ihres Erzählbandes): Ist Liebe das einzige, das zählt? Das einzige, das uns retten kann?

Nun, ja. Aber eine bestimmte Art von Liebe, glaube ich. Die Liebe zwischen einem Elternteil und einem Kind kann uns retten. Aber romantische Liebe verblasst nur. Es ist nur eine temporäre Lösung, und viele dieser Charaktere scheinen zu glauben, dass alles o.k. werden wird, wenn sie nur jemanden finden, der sich in sie verliebt. Ich dachte immer, dass die Suche nach wahrer Liebe – wie im romantischen Suchen nach einem Seelenverwandten – das ist, was unsere Welt vorwärts bringt. Ich glaube nun, dass das, was die Welt wirklich am Sich-Drehen hält, die Liebe eines Elternteils zu einem Kind ist.

Die letzte Ihrer Erzählungen rührte mich zu Tränen: Winston zieht sich aus der Welt zurück, nachdem ihm ein Trump im Westentaschenformat vor die Nase gesetzt wurde: ein frauenfeindlicher, rassistischer, größenwahnsinniger Cartoon-Bösewicht. Können Sie Winstons Rückzug aus einer Welt, in der Menschen wie Trump oder Brett im Buch die Macht haben, verstehen?

Ich weiß, das klingt furchtbar, aber ich freue mich, dass diese Geschichte Sie weinen machte. Ja, mit seinem neuen Boss ist Trump gemeint, und ja, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Für Menschen wie mich, die schon zur Isoliertheit und zum Vermeidungsverhalten neigen, war Trump eine Art letzter Stoß, den es brauchte, um uns in den Untergrund zu treiben. Aber ich würde gerne glauben, dass dieses Buch ein einziger großer Schrei ist, der aus dem Untergrund heraufkommt. Und ich werde wieder hinaufklettern. Das werden wir alle. Dessen bin ich sicher. Es wird so sein, als wäre all das nur ein böser Traum gewesen.

Winston weiß, dass es „irgendwann gut wird“. Was gibt Ihnen in Zeiten wie diesen Hoffnung und Licht?

Mein Sohn. Die Unschuld von Kindern. Der Gedanke, dass Kinder ein Recht haben, sich nicht verloren zu fühlen. Und die kleinen Dinge geben mir Hoffnung. Die Lichter am Weihnachtsbaum funkeln noch immer. Chinesisches Essen schmeckt immer noch gut.

Sie haben enormen Erfolg in den deutschsprachigen Ländern, in Europa. Was glauben Sie, ist der Grund dafür, dass die Leser hier Ihre Arbeit, Ihr Werk vielleicht sogar noch besser verstehen, als es die Amerikaner tun?

Eine Schlussfolgerung, die zu ziehen wäre, ist, dass vielleicht diese “disconnection”, dieses Gefühl des Abgeschnittenseins, diese Einsamkeit und dieser Kampf mit der Kultur meines eigenen Landes daherkommen, dass ich am falschen Ort geboren wurde. Und vielleicht ist das ein ungewöhnlicher Fall, wo zumindest meine Worte einen Platz gefunden haben, an dem sie sich zuhause fühlen, auch wenn ich es nicht habe.

Wie schwierig ist es heute, in den USA seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller zu verdienen, einem Land, dessen politischer Anführer kaum mehr als seine Tweets liest? Ihre Kollegin Elizabeth Strout erzählte mir, dass sie u. a. als Kellnerin, Verkäuferin, Barpianistin und Lehrerin arbeitete, ehe sie vom Schreiben leben konnte. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Ich kämpfe weiter, um meinen Lebensunterhalt als Autor in den USA zu bestreiten. Deshalb unterrichte ich als Lehrer an der Highschool, aber ich muss sagen, dass ich stolz bin, diesen Job zu haben. Ich fühle mich ein bisschen so, als wäre ich ein Fußsoldat an vorderster Front in einer Schlacht geworden, die Seele Amerikas zu retten. Zu dramatisch?! Ich möchte auch hinzufügen, dass ich Strouts „Mit Blick aufs Meer“ gelesen habe, während ich dieses neue Buch schrieb, und ich genoss jede Geschichte. Was für eine Schriftstellerin – Donnerwetter!

Daniel Keel, der inzwischen verstorbene Gründer des Diogenes-Verlags, war ein großer Mentor. Wie hat alles begonnen? Was bedeutet Ihnen Diogenes?

Wenn ich nur seinen Namen höre, muss ich grinsen. Ich sehe dieses Grinsen von ihm, so voller Schalk. Es begann alles damit, dass meine Lektorin – ich nenne sie meine „Swiss Miss“ – Anna von Planta auf der Frankfurter Buchmesse 2004 von mir hörte. Sie machte Daniel auf meine ersten zwei Bücher aufmerksam. Als ich ihn zum ersten Mal traf, war ich so nervös. Ich hatte etwas Deutsch gelernt und wollte ihn damit beeindrucken, dass ich das getan hatte. Aber ich sprach nicht so gut und es endete damit, dass ich voller Angst sagte: „Ich mochte et was trinken!“ Aber es wurde danach besser.

Was Diogenes betrifft: Ich kann es nicht genug betonen, wie wichtig dieses Verlagshaus für mich ist. Daniels Sohn Philipp glaubte an mich, selbst als ich vollkommen das Vertrauen in mich verlor. Die Marke, die Geschichte, das alles ist eine Sache. Aber würden Sie es mir glauben, wenn ich Ihnen sagen würde, dass da qualifizierte Menschen hinter diesen Büchern sind? Das ist wirklich so.

Ihr US-Verlag hatte Schwierigkeiten und ging in Konkurs. Hat Sie das auch betroffen?

Allgemein gesprochen hat die Große Rezession mich reingelegt, und mein amerikanisches Verlagshaus fiel in diesem Zusammenhang auseinander. Es bereitete mir große Schwierigkeiten, und meine Bücher sind auf Amerikanisch gegenwärtig vergriffen. Andererseits half mir dieser amerikanische Verleger am Anfang, als ich einundzwanzig war und Null Verlagserfahrung hatte.

Fühlen Sie sich mittlerweile wie ein europäischer Autor?

So gut wie. Diogenes hat alle meine Weltrechte, und ich habe in Amerika in zehn Jahren kein Buch veröffentlicht. Daher erkläre ich den Leuten, dass ich, praktisch, im Grunde genommen ein deutscher Schriftsteller bin.

Ihre Bücher handeln oft von Außenseitern, von Freaks. Der gleichnamige Roman „Freaks“, Blue Gene in „Heartland“, James Weinbach aus „Ich gegen Osborne“: Waren Sie selbst ein Außenseiter in der Schule, ein Freak?

Ich war mein ganzes Leben lang ein Außenseiter. Von der Zeit an, als ich als Kind durch einen Spalt in meinem Zaun die Kinder aus der Nachbarschaft spielen sah, bis zum heutigen Tag, wenn ich mein Mittagessen in meinem Klassenzimmer zu mir nehme, während alle anderen Lehrer zusammen im Aufenthaltsraum essen.

Waren die Musik und das Schreiben für Sie ein Weg, dem zu entfliehen?

Ja, Musik und Schreiben – generell Kreativität – waren immer meine Art, die Vorstellung, ein Außenseiter zu sein, zu nehmen und in etwas Positives zu verwandeln. Sagen wir zum Beispiel, ein Mädchen auf der Highschool wies mich zurück. Nun, wenn ich dazu in der Lage war, daraus ein Lied zu machen, dann war es das wert. Sie gab mir einen Grund zu singen. Traurigerweise habe ich keinen Platz mehr in meinem Leben für Musik. Es ist einfach keine Zeit dafür. Aber es ist immer noch ein Traum von mir, ein Musical zu schreiben.

In „Ich gegen Osborne“, aber auch im aktuellen Titel, schrieben und schreiben Sie immer wieder über den Verlust eines Elternteils durch Tod oder Scheidung. Sie verloren Ihren eigenen Vater früh. Wie hat der Verlust Ihr Leben, Ihr Schreiben beeinflusst? Sie hatten und haben eine starke Bindung zu Ihrer Schwester und Mutter. Beide Eltern und Ihre Schwester waren in der Sozialarbeit tätig. Wie hat deren Arbeit Ihr Schaffen beeinflusst?

Als wir meinen Vater verloren, brachte das meine Mutter, meine Schwester und mich noch näher zusammen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht wirklich aus Kentucky wegziehen kann. Ich würde sie zu sehr vermissen. Was das andere betrifft: Mein Vater, meine Mutter und meine Schwester widmeten ihr Leben der Aufgabe, anderen Menschen zu helfen, die es schwer hatten. Ich versuche auf meine Weise, Menschen mit meinen Büchern zu helfen. Ich hoffe, dass sich die Leser durch meine Bücher weniger allein fühlen.

James Weinbach fühlt sich, als ob er am falschen Ort und zur falschen Zeit leben würde. In welcher Zeit würden Sie denn gerne leben?

Ja, ich habe mich immer so gefühlt, als ob ich zu spät geboren worden wäre. Ich habe immer ältere Sachen bevorzugt. Sie finden viel davon in der Geschichte „Antikmarktmädchen“. Ich hätte gern in den Zwanzigerjahren gelebt. Damals schien alles so viel mehr Klasse zu haben. Wir haben keine Klasse mehr. Zumindest nicht in Amerika.

Seit Ihrem letzten Roman „Ich gegen Osborne“ hat sich politisch viel verändert. Isabel Allende sagte kürzlich, dass Rassismus, Xenophobie, Frauenfeindlichkeit, Populismus, Hass und der Glaube an die Überlegenheit der Weißen nicht neu seien in diesem Land, aber dass all das nun, unter Trump, akzeptabel wäre. Stimmen Sie ihr zu? Was sagen Sie zu all dem? Sind Sie in politischen Belangen eher pessimistisch?

Goebel: Ich muss zugeben, dass ich mit Trump-Fragen kämpfe. Es ist, als ob mich jemand fragen würde: „Was denken Sie über die Apokalypse, die wir hatten?“ Es ist zu groß, zu verheerend für mich, es zu verarbeiten. Ich hoffe, dass ich mit fortschreitender Zeit einige intelligente Kommentare über das gegenwärtige politische Klima in den USA anbieten kann. Aber im Augenblick, während ich noch mitten drin bin, fühle ich mich, als wäre ich in einer Wolke verloren, die eines Tages sicher vorüberziehen wird.

Manche sagen, dass Kunst, Literatur in schlechten Zeiten florieren. Können Musik, Kunst und Literatur die Welt zum Besseren hin verändern?

Darüber habe ich ziemlich viel nachgedacht. Manchmal frage ich mich, ob diese Vorstellung nur etwas ist, das sich intelligente Menschen selbst erzählen, um Trost in schwierigen Zeiten zu finden. Was ich aber weiß, ist, dass ich persönlich meine produktivsten Zeiten als Autor während der Bush-Jahre hatte, die eine solch dunkle Periode für Amerika waren (wenn ich nur gewusst hätte, was noch kommt!).

Ihre Romane „Vincent“ und „Ich gegen Osborne“ handeln auch von der zunehmenden Verdummung, Oberflächlichkeit und Verrohung der Gesellschaft und Sprache. Glauben Sie, dass das jetzt sogar noch schlimmer wird?

Ja, und obwohl ich es hasse, bei Trump zu verweilen, sehe ich seinen Aufstieg zur Macht als direktes Resultat dieser zunehmenden Verdummung. Es ist umfassend dokumentiert, dass es die ungebildeten Leute waren, die Trump zum Sieg verhalfen. Seine Rhetorik traf etwas in dem Kriechtier-Verstand Amerikas. Aber damit der Kriechtier-Verstand den Intellekt überhaupt erst besiegen konnte: Das war etwas, was schrittweise über Jahrzehnte passierte – diese erschreckende Verblödung des amerikanischen Geistes, die ich in jedem meiner Bücher beklage.

Der Medientycoon Foster Lipowitz in „Vincent“ will am Ende seines Lebens noch schnell den Grundstein zu einer anspruchsvollen Mainstream-Kultur legen. Wenn wir uns heute umsehen, scheint sich sein Traum ins Gegenteil verkehrt zu haben: YouTube-Kanäle ersetzen heute Fernsehen und Radio. Kinder und Blogger machen auf YouTube ein Vermögen. Wie sehen Sie all das?

Ich habe das Gefühl, so viel gejammert zu haben, dass ich es an dieser Stelle mit etwas Optimismus versuchen möchte. Ich würde sagen, dass es seit „Vincent“ eine unerwartete Entwicklung in den Massenmedien gegeben hat: Das Fernsehen wurde viel, viel besser. Die Serie „Mad Men“ beispielsweise bewies, dass Fernsehen visuelle Literatur sein kann. Ich habe eine Schwäche für einige Fernsehserien der vergangenen Jahre: „Stranger Things“, „Breaking Bad“, „This Is Us – Das ist Leben“ … Aber ich gebe zu, dass mir jedes Mal ein bisschen übel wird, wenn ich von jemandem höre, dessen Ruhm und Glück auf YouTube begann. Ich sollte aber nicht eifersüchtig sein.

Wie sehen Sie die neue digitale Welt? Kinder wachsen mit Smartphones statt Büchern auf. Die Menschen kommunizieren immer weniger mit realen und immer mehr mit digitalen Freunden. Sie streben nach Likes statt nach wirklichen Freundschaften.

Da ich Fünfzehn- und Sechzehnjährige unterrichte, habe ich aus erster Hand miterlebt, wie die Digitalisierung der Welt aussieht. Im Augenblick sieht es so aus, als würde eine ganze Generation süchtig an ihren Smartphones hängen. Schauen Sie, mit jeder neuen Technologie kommt auch die Angst, was das mit unserer Gesellschaft macht. Das Fernsehen zum Beispiel führte letztendlich nicht das Ende der Welt herbei. Aber ich würde sagen, dass es unnatürlich und ungesund scheint, die Welt während fast all deiner Wachzeiten auf einem winzigen kleinen Schirm zu erfahren.

In einer Ihrer Erzählungen wird das Mailen fast zum Lebensinhalt eines Ihres Protagonisten, zu einer Art Ersatzbefriedigung und zum Beweis, sich in seiner Existenz bestätigt zu fühlen. Welche Konsequenzen wird es haben, wenn wir immer weniger lesen? Wenn wir es vorziehen, in einer digitalen statt in der realen Welt zu existieren?

Richtig. Der Erzählband spielt in den Neunzigern, aber ich verwendete Dans E-Mail-Sucht, um die gegenwärtige Obsession mit Smartphones zu versinnbildlichen. Das Problem ist, dass es uns immer mehr zu Robotern macht, wenn wir weniger lesen und wenn wir in einer digitalen Welt leben. Jemand weit Intelligenterer als ich (ich kann mich nicht erinnern, wo ich das gelesen habe) argumentierte, dass wir bereits Cyborgs geworden sind. Sie sagte, dass unsere Smartphones im Grunde genommen ein Anhang oder ein Teil unseres Körpers geworden sind. Und ich stimme ihr darin zu. Ich meine, ich fühle mich ein bisschen panisch, wenn ich glaube, meins verloren zu haben. Und wir überlassen es dem Telefon, für uns zu denken. Überlegen Sie einmal, wie oft Sie sich an irgendetwas nicht erinnern können: Zum Beispiel, wer in irgendeinem Film gespielt hat. Und schon greifen wir nach unserem Telefon. Also haben wir bereits einen Cyborg-Verstand. Ich mache mir Sorgen darüber, was das mit unseren Herzen und unseren Seelen machen wird.

Wie ist es heute, in einer Welt, die keine Tabus mehr kennt, noch möglich, ein Rebell zu sein?

Der einzige Weg, den ich kenne, ist der, zuhause zu bleiben und sich gut zu benehmen!

Wie wuchsen Sie auf?

Ich wuchs in einer Mittelklasse-Familie auf, in der Vorstadt. Ich liebte es immer, die Leute zum Lachen zu bringen, und meine erste Liebe war die Musik.

Wie hat die Vaterschaft Sie verändert? Was würden Sie Ihrem Sohn gerne mitgeben?

Ich würde gerne glauben, dass es mir mehr Tiefe gegeben hat, mehr Ebenen. Ich hoffe, dass es mich weniger selbstsüchtig gemacht hat. Und ich denke, das Wichtigste, das ich meinem Sohn gerne weitergeben würde, ist die Wichtigkeit, empathisch zu sein und mitfühlend, da die Welt immer kälter und gemeiner wird. Und ich möchte, dass er weiß, dass es o.k. ist, still zu sein. Es ist in Ordnung, schüchtern zu sein. Die Welt könnte mehr stille Leute gebrauchen.

Der 1980 in Henderson, Kentucky, geborene und dort verbliebene Joey Goebel (eigentlich Adam Joseph Goebel III) tourte fünf Jahre lang mit einer Punkband durch den Mittleren Westen, ehe er zu schreiben begann. Seine satirischen Romane „Freaks“ (das Buch generierte sich aus einem Drehbuch), „Vincent“, „Heartland“ und „Ich gegen Osborne“ waren große Erfolge im deutschen Sprachraum. Mit seinem Erzählband „Irgendwann wird es gut“ geht er stilistisch neue Wege.

„Irgendwann wird es gut“ (Diogenes)
(Übers. v. Hans M. Herzog), 304 S.

Erscheint am 27. Februar 2019